WWF Magazin 1/2005, "Biebrza soll leben", autor: Bernhard
Matuschak
Der
polnische Fluss Biebrza ist von der Quelle bis zur Mündung noch ungezähmt.
Hier findet auch der Elch eines seiner letzten Rückzugsgebiete in Mitteleuropa.
Und Ökotouristen unverfälschte Natur. Doch nun wird eine Autobahn projektiert.
Im Schilfwald tut sich etwas. Ein Kopf mit langgezogener Schnauze und
zwei riesigen Ohren taucht aus dem wogenden Meer der Halme auf, äugt in
alle Richtungen und verschwindet wieder. Kurze Zeit später wiederholt
sich das Schauspiel in einiger Entfernung. Auf einer kleinen Lichtung
wird der mächtige Vierbeiner in voller Grösse sichtbar. Es ist eine Elchkuh,
begleitet von einem wenige Wochen alten Jungtier. Augenblicke später tauchen
beide wieder ein in die dichte Vegetation.
Der Elch ist das grösste Tier im Biebrza-Nationalpark im Nordosten Polens.
Eine Kuh bringt es auf bis zu zwei Meter Schulterhöhe und knapp 400 Kilo
Körpergewicht, Hirsche können gar doppelt so schwer werden. Normalerweise
haben Elche, abgesehen vom Menschen, keine Feinde. Selbst Wolf und Luchs
würden sich nie an ein gesundes, ausgewachsenes Exemplar heranwagen. Kranke
oder junge Tiere können dagegen eine Beute der beiden grössten Raubtiere
der Region werden.
Im Volksmund wird die Biebrza auch polnischer Amazonas genannt. Der Vergleich
hat was: Der 250 Kilometer lange Fluss ist der letzte von der Quelle bis
zur Mündung ungezähmte Fluss Europas. Wie am Amazonas hebt und senkt sich
der Wasserspiegel im Laufe des Jahres um mehrere Meter. Torfmoore, Wiesen
und Wälder werden im Frühling überschwemmt und fallen im Herbst trocken.
Frühere Pläne zur Trockenlegung und Umwandlung der Sümpfe in landwirtschaftliche
Nutzfläche wurden fallen gelassen. So blieb die Landschaft intakt. Luchs,
Wolf, Otter, Schwarzstorch und Seeadler überlebten die Nachstellungen
des Menschen. Alleine dem Biber, der dem Fluss den Namen gibt, ging es
seines Pelzes wegen an den Kragen. Bereits in der ersten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts war der Nager ausgerottet. Er wurde später wieder angesiedelt.
Auch der Elch war einst ein beliebtes Jagdtier. Der Bestand wurde in
den Notzeiten bis nach dem zweiten Weltkrieg fast vollständig dezimiert.
Inzwischen konnte sich die Population durch aus dem Osten eingewanderte
Tiere wieder erholen und zählt gegen 500 Tiere. Seinen Bewegungsdrang
- pro Tag legt ein Elch bis zu sechs Kiloneter zurück - hemmen an der
Biebrza keine Barrieren. Als das etwa bodenseegrosse Gebiet um den mäandernden
Fluss 1993 zum Nationalpark erklärt wurde, schien seine Zukunft auf Dauer
gesichert.
Intakte Natur
Doch nun steht ein Elchtest der besonderen Art. bevor. Seit dem EU-Beitritt
Polens im Mai vergangenen Jahres stören kreischende Motorsägen die Ruhe
am Rand des Nationalparks. Die vom Verkehrsministerium in Warschau angeordnete
Rodung dient offiziell der Verbreiterung einer Strasse südlich des Schutzgebietes.
Umweltschützer und Bewohner der Region argwöhnen allerdings, dass der
Eingriff Fakten schaffen soll für eine umstrittenes Jahrhundertprojekt.
Der fragliche Strassenabschnitt liegt auf der geplanten Via Baltica, einer
vierspurigen Autobahn, die von Hamburg bis Helsinki verlaufen soll.
Gegen die geplante Streckenführung, die das Biebrza-Gebiet vom angrenzenden
Narew-Nationalpark abzuschneiden droht, läuft der WWF Polen Sturm. Die
Autobahn würde, so WWF-Direktor Ireneusz Chojnacki, eine <<permanente
Störung für die Natur bedeuten, die Wanderwege der Elche und anderer Tiere
zerstören und die Zerstückelung der Landschaft beschleunigen>>.
Zudem befürchtet er eine Beeinträchtigung des Wasserhaushalts, weil das
Gelände um den Strassendamm trockengelegt werden müsste. Chojnacki weiss
andrerseits um die wirtschaftliche Bedeutung der neuen Verkehrsverbindung
und lehnt sie nicht prinzipiell ab: <<Wir fordern eine Alternativlösung,
die nördlich am Schutzgebiet vorbeiführt und sogar 30 Kilometer kürzer
wäre als die geplante Trasse.>>
Auch in der Bevölkerung der Region stossen die Pläne aus Warschau auf
Ablehnung. <<Die Natur der Biebrza mit ihrer einzigartigen Fauna
und Flora ist unser Kapital. Wird sie zerstört, verlieren wir unsere Existenz>>,
klagt Katarzyna Ramotowska. Die Biologin machte sich vor mehr als zehn
Jahren selbständig und betreibt ein Touristikunternehmen mit gut einem
Dutzend Angestellten.
Wir treffen Ramotowska kurz vor Einbruch der Abenddämmerung bei der Arbeit
auf einem Beobachtungsstand im Nationalpark. Sie hat eine Gruppe Ornighologen
aus Dänemark hierher geführt. Die gut zwei Dutzend Vogelliebhaber haben
ihre Fernrohre auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Über ihren Köpfen
kreist bedrohlich eine dunkle Moskitowolke. Doch die Naturfreunde haben
nur Auge und Ohr für ein Doppelschnepfenmännchen, das um die Gunst seiner
Auserwählten balzt. Das Minnegezwitscher verzückt die Vogelexperten, denn
kaum sonst wo bekommt man diese seltene Art. während der Brautwerbung
vors Okular. Erst als der Rufer seine Bemühungen einstellt und er mangels
Tageslicht ohnehin kaum noch zu erkennen ist, geben die Ornighologen auf
und ziehen zerstochen, aber glücklich von dannen.
Przemek Nawrocki vom WWF Polen beobachtet das Geschehen hier mit gemischten
Gefühlen. Einerseits wurmt ihn der Massenaufmarch, andrerseits weiss er
um die Wichtigkeit des Tourismus für den Erhalt der Natur. <<Die
Leute müssen etwas zurückbekommen, wenn sie die Natur schützen. Nur so
akzeptieren sie Einschränkungen>>, sagt er.
Tourismus beschränken
Nawrocki, der das Schutzprojekt <<Biebrza>> bereits seit
Jahren leitet, weiss, wovon er spricht. Als 1993 der Nationalpark ausgerufen
wurde, zog sich der WWF wieder aus der Region zurück. <<Wir dachten,
nun bestehen keine Gefahr mehr>>, erinnert sich der Umweltschützer.
Doch dann gab es massiven Widerstand in der Bevölkerung. Der Unmut entlud
sich in Wilderei und Gewalt an Parkeinrichtungen. Ein grosser Beobachtungsturm
wurde in einer Nacht- und Nebelaktion zu Kleinholz.
Die Parkverwaltung wandte sich hilfe suchend an den WWF, und Nawrocki
kehrte als <<Umwelt-Diplomat>> zurück an die Biebrza. Mit
viel Überzeugungsarbeit glättete er die Wogen. Und so mancher Saulus wandelte
sich zum Paulus. Wie etwa Zdislaw Dabrowski, Bürgermeister der Gemiende
Trzcianne am südöstlichen Rand des Nationalparks. Der 46-jährige Landwirt,
einst erklärter Gegner des Nationalparks, preist heute seine Vorzüge.
Hauptgrund für den Sinneswandel sind nicht nur Umweltaspekte, sondern
handfeste ökonomische Erwägungen. <<Im Tourismus liegt unsere wirtschaftliche
Zukunft>>, sagt Dabrowski. Der Dorfchef will Trzcianne fit machen
für die Feriengäste. Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und hat bereits
eine Pension sowie ein Freilichtmuseum auf seinen Grund geschaffen.
Einen Wandel im Bewusstsein der Bevölkerung konstatiert auch Nationalparkdirektor
Adam Sienko. Er muss sich nicht mehr mit renitenten Gegnern des Schutzgebietes
herumschlagen. Heute gehe es darum, den Andrang der Touristen in geregelte
Bahnen zu lenken: <<Wir müssen uns überlegen, wie weit wir uns öffnen
dürfen. Der Fremdenverkehr darf nicht zum Massentourismus verkommen.>>
Einig ist sich Sienko mit WWF-Direktor Chojnacki auch im Kampf gegen
die Via Baltica durch die Biebrza: <<Der Nationalpark ist eine grosse
Chance für die Entwicklung der Region, und die lassen wir uns von einer
Autobahn nicht nehmen.>> Chojnacki macht politisch Druck: <<Derzeit
versuchen wir die EU-Parlamentarier von unserem Anliegen zu überzeugen,
denn ohne finanzielle Zuschüsse aus Brüssel kann die Autobahn nicht gebaut
werden.>> Erste Etappensiege hat der WWF bereits verbucht: Eine
bislang von der Regierung abgelehnte Umweltverträglichkeitspfüfung wurde
in Auftrag gegeben und für das Vorhaben freigegebene Gelder der Weltbank
sind vorerst eingefroren.
Bernhard Matuschak
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